Im September 1957 machte sich Salvatore Fiore aus der Gemeinde Leverano im süditalienischen Apulien, auf den Weg nach Deutschland. Hier erwartete den Sohn einer Kaufmannsfamilie (Metzgerei, Obst und Gemüsehandel, Lebensmittelladen und Landwirtschaft) ein Land, in dem es vielen Menschen gut ging. Die Unternehmen hatten Hochkonjunktur, die Industrie lief auf Hochtouren. Dank hoher Löhne für die harte Arbeit konnte man sich vor allem im Ruhrgebiet nach den Entbehrungen der ersten Nachkriegsjahre wieder einen kleinen Luxus leisten.
In den Zeiten des so genannten Wirtschaftswunders herrschte nur an einem Mangel: Für das weitere Wachstum fehlten Arbeitskräfte. So schlossen Deutschland und Italien im Dezember 1955 eine „Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland“. Italien hatte bereits zuvor mit sieben anderen Staaten in Europa entsprechende Verträge geschlossen, um die Arbeitslosigkeit im eigenen Land zu mindern. Das Abkommen zielte in erster Linie auf ausgebildete Facharbeiter sowie Arbeiter für die Landwirtschaft, die für sechs bis zwölf Monate in Deutschland arbeiten sollten. Doch schon nach kurzer Zeit meldeten weitere Branchen, vor allem Industrie, Bergbau und Bauwirtschaft, weiteren Bedarf an den so genannten „Gastarbeitern“ an.
Die zuständige deutsche Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung richtete Anfang 1956 eine Anwerbekommission in Verona und 1960 eine zusätzliche in Neapel ein. Deutsche Firmen meldeten ihren Bedarf an Arbeitskräften an die Bundesanstalt, diese leitete die Anfragen über die Kommission an die italienischen Behörden weiter. Die Arbeitsämter in Italien vermittelten die italienischen Bewerber an die deutsche Kommission. In den Anwerbestationen wurden die Bewerber registriert, medizinisch untersucht, mit Arbeitsverträgen und Arbeitserlaubnissen ausgestattet und auf die Züge nach Deutschland verteilt.
Für viele junge Männer in Italien erschien die Möglichkeit zur Arbeit in Deutschland attraktiv. Die Fahrtkosten wurden bezahlt, der Arbeitsvertrag garantierte einen vergleichsweisen guten Tariflohn in Deutschland, die Arbeit war befristet – es lockten ein paar Monate Abenteuer im Ungewissen.
Für Salvatore Fiore ging es über die Anwerbestation in Verona mit dem Zug ins Ruhrgebiet. Dort arbeitete er als Tagesarbeiter und Kohlenschlepper auf Zeche Adolph von Hansemann in Dortmund-Mengede, in den folgenden Jahren wechselte er als Hauer zur Zeche Lothringen nach Bochum-Gerthe. Wie viele andere angeworbene Italiener wurde er in einem Barackenlager untergebracht, wo er sich mit drei weiteren Kollegen ein Zimmer teilte.
Die Behörden hatten bei der Organisation ausschließlich an die Arbeitskraft der Menschen gedacht. Für das Alltagsleben und die Freizeitgestaltung gab es hingegen kaum Strukturen. Die Räume in den Sammelunterkünften waren meist sehr beengt. Ein Leben auf öffentlichen Plätzen gab es in den 1950er-Jahren in Deutschland im Gegensatz zu Italien nicht. Restaurants oder Gaststätten waren teuer, und die Italiener dort nicht immer gern gesehen. Lokale Zeitungen berichteten immer wieder von Auseinandersetzungen und bedienten oft gängige Vorurteile von aufbrausenden temperamentvollen Südländern, die Messerstechereien provozierten. So entwickelten sich im Ruhrgebiet die Bahnhöfe zu Treffpunkten der so genannten Gastarbeiter. Dort kamen Bekannte, Freunde und Familien an, dort fuhren die Züge in die Heimat ab. In den Bahnhofshallen konnte man unverbindlich Landsleute treffen und die Buchhandlungen boten als einzige Zeitungen aus der Heimat an.
Trotz der harten Arbeit und widriger Bedingungen entschloss sich Salvatore Fiore, auch in den folgenden Jahren als Bergmann im Ruhrgebiet zu arbeiten. „Ich bin hier geblieben, weil mir das System gefallen hat. Sauberkeit, Ordnung, alles,“ erinnert er sich.
Ende der 1950iger Jahre lernte er in einer Metzgerei seine große Liebe kennen – eine Deutsche. Trotz Anfeindungen, unter denen besonders die Frau wegen ihrer Beziehung mit einem „Gastarbeiter“ zu leiden hatte, heirateten die beiden und schmiedeten Pläne für die Zukunft: Eine eigene Metzgerei – das war der große Traum. Die Fachkenntnis war beim gelernten Metzger wie auch bei der Verkäuferin vorhanden – es fehlte aber der in Deutschland erforderliche Meisterbrief. „Dann machen wir eben eine Eisdiele“, entschloss sich das junge Paar. Tatsächlich machten Mitte der 1950er-Jahre italienische Eisdielen im Ruhrgebiet glänzende Geschäfte. Sie profitierten von der weit verbreiteten Italiensehnsucht. Schlager, Spielfilme und Zeitschriften priesen Italien als Land der Sonne, der Liebe und des süßen Lebens. Viele Menschen aus dem Ruhrgebiet verbrachten Ende der 1950er-Jahre tatsächlich ihren ersten Auslandsurlaub in Italien und suchten zurück in der Heimat ein Stück des süßen Lebens. Dieses Bedürfnis erfüllten die italienischen Eisdielen. Ein Hauch von Italien im Ruhrgebiet, gepaart mit hausgemachter Eiscreme und freundlichem Service war das Erfolgsrezept.
Das Ehepaar Fiore plante, rechtzeitig zum Saisonbeginn im Frühjahr 1963, ein eigenes Eiscafé in Castrop-Rauxel im Stadtteil Schwerin zu eröffnen. Doch Schwierigkeiten mit Behörden und Nachbarn verzögerten die Genehmigung zunächst. „Bewohner waren damals gegen Ausländer im Haus“, erinnert sich Salvatore Fiore. Doch schließlich konnten die Fiores im Juni die Eröffnung feiern. Das Eis bereitete ein gelernter Eismacher aus Italien. In den ersten Jahren betrieb das Ehepaar Fiore im Sommer die Eisdiele und in den Wintermonaten arbeitete Salvatore untertage, während seine Frau seine Frau in der Metzgerei arbeitete, um das junge Unternehmen zu finanzieren. Nach zwei Jahren kehrte der gelernte Eismacher zu seiner Familie nach Italien zurück und von da an übernahm Salvatore Fiore auch das Eismachen.
In den 1970iger Jahren expandierte das Ehepaar Fiore und eröffnete ein größeres Eis-Café in der Castrop-Rauxler Innenstadt. Mittlerweile führen zwei Töchter von Salvatore Fiore und Ehefrau den Familienbetrieb weiter. Bis heute ist das Eiscafé Fiore in Castrop-Rauxel ein beliebter Treffpunkt.
Dietmar Osses
Leiter Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur Zeche Hannover
Literatur:
Anke Asfur/Dietmar Osses: Neapel-Bochum-Rimini. Arbeiten in Deutschland. Urlaub in Italien. Italienische Zuwanderung und deutsche Italiensehnsucht im Ruhrgebiet.
Essen: Klartext-Verlag 2003
Anne Overbeck/ Dietmar Osses (Hg.): Eiskalte Leidenschaft. Italienische Eismacher im Ruhrgebiet. Essen: Klartext-Verlag 2009
Yvonne Rieker: „Ein Stück Heimat findet man ja immer.“ Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik. Klartext-Verlag 2003
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