Mit Arg­wohn beäugt -

Juden brin­gen fri­schen Wind in die Wirtschaft

Die ers­te Syn­ago­ge Reck­ling­hau­sens wur­de 1880 am Her­zogs­wall ein­ge­weiht.
Foto: Insti­tut für Stadt­ge­schich­te Recklinghausen

Gleich­be­rech­ti­gung stand ledig­lich auf dem Papier, als sich der jüdi­sche Metz­ger Aaron Mar­cus im Okto­ber 1808 zunächst in Kirch­hel­len nie­der­ließ. Zehn Jah­re spä­ter stell­te ihm die preu­ßi­sche Behör­de einen Gewer­be­schein aus. Dar­in wur­de sei­ne „tarif­mä­ßi­ge Steu­er“, aber auch sei­ne Berech­ti­gung „ohne Hin­der­nis und Stö­rung“ das Metz­ger­hand­werk aus­zu­üben ver­brieft. Damit war der aus Laas­pe im Witt­gen­stei­ni­schen stam­men­de Aaron Mar­cus ab 1818 der ers­te jüdi­sche Voll­bür­ger Recklinghausens.

Erst 1803 war als Aus­wir­kung des Code Napo­lé­on das jahr­hun­der­te­al­te Ver­bot der Ansied­lung von Nicht-Katho­li­ken in Vest und Stadt Reck­ling­hau­sen auf­ge­ho­ben wor­den. Der Zuzug von Frem­den war damit recht­lich ermög­licht und wur­de doch von der Bevöl­ke­rung kri­tisch beob­ach­tet. Jeder Neu­bür­ger muss­te erst ein­mal bewei­sen, dass er etwas konn­te, dass er eine Berei­che­rung für sei­ne Kom­mu­ne, beson­ders für die noch rudi­men­tä­re Arbeits- und Geschäfts­welt dar­stell­te. Wie immer in sol­chen Fäl­len gehör­ten Mut und Steh­ver­mö­gen für die ers­te Gene­ra­ti­on von Ein­wan­de­rern dazu. Sie muss­ten sich gegen Abschot­tung und Vor­ur­tei­le der „Urbe­völ­ke­rung“ behaupten.

Jüdi­sche Metz­ger arbei­te­ten hygienisch

Jonas Cos­mann, eben­falls ein Metz­ger und auch „Han­dels­mann“, war bereits drei Jah­re vor Aaron Mar­cus mit sei­ner Frau aus Dort­mund-Dorst­feld zuge­zo­gen. Sie stan­den in Kon­kur­renz zu den hei­mi­schen Metz­gern, was behörd­li­cher­seits aus­drück­lich erwünscht war. Vie­le Kun­den bevor­zug­ten bald die jüdi­schen Metz­ger, da die­se oft­mals sau­be­rer arbei­te­ten, weil sie die jüdi­schen Rein­heits­ge­bo­te beach­te­ten. Das sorg­te für Unfrie­den bei den hei­mi­schen Berufs­kol­le­gen, doch Qua­li­tät setz­te sich durch. 1846 sind bereits drei jüdi­sche Metz­ge­rei­en in Reck­ling­hau­sen ansäs­sig: Lei­ser, Mai und Marcus.

Zudem erwie­sen sich die neu­en Mit­bür­ger auch in ande­ren Berei­chen als inno­va­ti­ve und cle­ve­re Geschäfts­leu­te. Sie brach­ten fri­schen Wind in die ört­li­che Wirt­schaft. Aller­dings ver­wehr­te ihnen der Zunft­zwang den Zugang vor allem zu hand­werk­li­chen Beru­fen. Hier sprang ab 1825 die Müns­te­ra­ner Marks-Hain­dorf-Stif­tung in die Bre­sche. Sie finan­zier­te u.a. 1832 die Kup­fer­schlä­ger­leh­re des Isaak Jonas bei Meis­ter Mid­del­mann in der Kuni­ber­ti­stra­ße. Drei Jah­re spä­ter kam David Jonas in den Genuss einer Aus­bil­dung bei Klemp­ner­meis­ter Eckmann.

Syn­ago­ge und Fried­hof ver­mit­teln Heimatgefühl

Bereits 1904 wur­de eine grö­ße­re Syn­ago­ge am Wes­ter­hol­ter Weg eröff­net. Sie wur­de am 9. Novem­ber 1938 von den Nazis ange­zün­det. Ab 1955 gab es einen neu­en Bet­saal in der Nähe des Poli­zei­prä­si­di­ums.
Foto: Insti­tut für Stadt­ge­schich­te Recklinghausen

Ein wei­te­rer Neu­bür­ger war Levi Klein, der 1825 bereits als ver­mö­gend galt. Ihm gehör­te Mit­te des Jahr­hun­derts immer­hin das statt­li­che Cra­mer­sche Haus an der Hei­lig-Geist-Stra­ße, das er spä­ter an den preu­ßi­schen Land­rat Robert von Reit­zen­stein ver­kauf­te. Als nach­tei­lig für die Inte­gra­ti­on erwies sich aller­dings das frü­he Zer­würf­nis inner­halb der noch klei­nen Min­der­heit um den jüdi­schen Got­tes­dienst. Der öffent­lich aus­ge­tra­ge­ne Streit der Juden war das Gesprächs­the­ma in der katho­lisch gepräg­ten Stadt. Erst auf Druck der Behör­den schlos­sen sich die weni­gen Reck­ling­häu­ser Juden 1827 zu einer Syn­ago­gen­ge­mein­de zusam­men. Levi Klein wur­de wegen der fort­ge­setz­ten inner­jü­di­schen Que­re­len 1835 vom Lan­des­rab­bi­ner zum Syn­ago­gen­vor­ste­her ernannt. Samu­el Ben­dix, der eben­falls als wohl­ha­bend und fort­schritt­lich galt, erwarb bereits 1824 einen Begräb­nis­platz für die jun­ge Gemein­de an der Börs­ter Hegge.

Ihre ers­te Syn­ago­ge errich­te­te die auf­blü­hen­de jüdi­sche Gemein­de 1877 – 1880 am alten Qua­den­turm, hin­ter der erst spä­ter errich­te­ten Feu­er­wa­che gegen­über der Ein­mün­dung Wes­ter­hol­ter Weg/Herzogenwall. 1900 zähl­te die Gemein­de 220 See­len und blieb doch bis zur soge­nann­ten Macht­er­grei­fung 1933 wei­ter unter einem Pro­zent der Reck­ling­häu­ser Bevölkerung.

Ers­tes Haus am Platz: Tex­til­kauf­haus Cosmann

Eine Post­kar­te zeigt den Markt­platz mit dem Kauf­haus Cos­mann auf der rech­ten Seite.

Exem­pla­risch für eine erfolg­rei­che Inte­gra­ti­on in das hie­si­ge Geschäfts­le­ben und das städ­ti­sche Sozi­al­ge­fü­ge erscheint die Kar­rie­re von David Cos­mann sen. (1824 — 1900). „David Cos­mann sen. schaff­te 1867 die Umge­stal­tung des elter­li­chen Betriebs vom Manu­fak­tur- zum Kon­fek­ti­ons­ge­schäft unter der neu­en Adres­se Markt 16., wie ein Inse­rat im „Reck­ling­häu­ser Wochen­blatt“ von 1874 ver­deut­licht.“* Dem­nach order­te Cos­mann per­sön­lich auf Mes­sen in Frankfurt/Oder und Ber­lin die Neu­hei­ten der Früh­jahrs­sai­son. Nicht nur Stof­fe, son­dern fer­ti­ge Klei­dung wie Män­tel, Röcke, Hosen und Wes­ten zähl­te zum Sor­ti­ment. „Eine gro­ße Aus­wahl zu fes­ten, aber bil­li­gen Prei­sen zähl­te bereits 1874 zu Cos­manns Ver­kaufs­stra­te­gie. Hier erscheint für Reck­ling­hau­sen bereits sehr früh eine Über­nah­me der Ver­kaufs­prak­ti­ken fran­zö­si­scher Kauf­häu­ser.“** Erwei­te­run­gen und Moder­ni­sie­run­gen in den Jah­ren zwi­schen 1901 und 1929 ver­lei­hen dem Kauf­haus ein groß­bür­ger­li­ches Erscheinungsbild.

Nazis ver­nich­te­ten alle jüdi­schen Existenzen

Das jahr­zehn­te­lang füh­ren­de Tex­til­kauf­haus am Plat­ze fusio­nier­te 1928 mit der Fir­ma Kar­stadt. Die bis dahin markt­prä­gen­den Geschäfts­ge­bäu­de wur­den ein Jahr spä­ter zuguns­ten des damals größ­ten Kauf­hau­ses Alt­hoff-Kar­stadt abge­ris­sen. Otto Cos­mann, der zur Geschäfts­füh­rung der hoch­mo­der­nen Reck­ling­häu­ser Filia­le gehör­te, trat unter dem Druck der Natio­nal­so­zia­lis­ten bereits im Zug der ers­ten Boy­kott-Maß­nah­men im Früh­jahr 1933 aus dem Lei­tungs­gre­mi­um aus und muss­te sei­ne Akti­en­an­tei­le ver­kau­fen. Die nach­fol­gen­de NS-Poli­tik ver­nich­te­te inner­halb ihrer nur zwölf­jäh­ri­gen Herr­schaft sämt­li­che jüdi­schen Exis­ten­zen. Nicht ein­mal Bil­der der im Text genann­ten Per­so­nen sind erhal­ten geblie­ben oder sind öffent­lich zugänglich.

Nur zwei Über­le­ben­de kehr­ten nach dem Krieg zurück: Mar­tha de Vries, geb. Mar­cus und ihre Freun­din Min­na Aaron. Im Jahr 2018 zähl­te die Jüdi­sche Kul­tus­ge­mein­de Kreis Reck­ling­hau­sen 557 Mitglieder.

1848 erschien im Wochen­blatt für den Kreis Reck­ling­hau­sen die­se Anzei­ge des Kauf­hau­ses Cos­mann.
Abbil­dung: Eine Zei­tung im Spie­gel der Zeit

Alfred Stemm­ler
Ver­ein für Orts- und Heimatkunde

Zitat:
*/** Dr. Wer­ner Kop­pe: „Reck­ling­hau­sen – die Ein­kaufs­stadt“, S. 74 f.

Lite­ra­tur
Wer­ner Burg­hardt: Ves­ti­sche Zeit­schrift, Zeit­schrift der Ver­ei­ne für Orts- und Hei­mat­kun­de im Vest Reck­ling­hau­sen, Band 1977/1978, „Die Juden im Vest Reck­ling­hau­sen“, S. 22 – 132,

Ves­ti­sches Jahr­buch, Band 50, 1948, Dr. A Dori­der: „Zur Geschich­te der jüdi­schen Bevöl­ke­rung in Reck­ling­hau­sen“, S. 133 – 139

Eine Zei­tung im Spie­gel der Zeit, 150 Jah­re Zei­tungs­haus Bau­er, 1981

 

 

 

 

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