Er war einer der ersten Fußballstars des Ruhrgebiets und wird noch heute weit über die Region hinaus als erfolgreicher Held verehrt: Ernst Kuzorra, der Sohn einer masurischen Migrantenfamilie.
Wie viele andere, waren auch die Eltern von Ernst Kuzorra zur Arbeit ins Ruhrgebiet gezogen. Im Jahr 1905, dem Geburtsjahr von Ernst Kuzorra, lebten im Ruhrgebiet rund 500.000 Menschen aus dem Osten. Sie stammten aus West- und Ostpreußen, Schlesien und Posen. Viele kamen aus ländlichen Regionen und suchten nun Arbeit im Bergbau. Gut 150.000 kamen aus Masuren. Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet wurden sie wegen ihrer fremd klingenden Sprache – einem altpolnischen Dialekt – und der Herkunft aus dem Osten jedoch im Alltag meist unterschiedslos als „Polen“ wahrgenommen. So erging es auch den Eltern von Ernst Kuzorra, die kaum Deutsch sprachen.
Im Ruhrgebiet hatten die Neuankömmlinge oft einen schlechten Ruf. Sie galten als ungebildet, streitlustig und trinkfreudig. „Polacke“ war ein gängiges Schimpfwort für sie. Die Menschen aus Masuren hatten doppelt unter der Diskriminierung zu leiden. Für die staatlichen Behörden galten die „Polen“ im Ruhrgebiet generell als Aufrührer. Eine speziell eingesetzte Polenüberwachung beobachtete argwöhnisch alle Versammlungen und Vereine. Die Masuren fühlten sich jedoch mehrheitlich als Altpreußen. Im Gegensatz zu den katholischen Polen waren sie evangelisch und oft deutsch-national gesinnt. Trotzdem hatten sie unter Ablehnung und Vorurteilen zu leiden, weil sie als Fremde, als Polen wahrgenommen wurden. Viele masurische Familien siedelten sich in der Stadt Gelsenkirchen, Wattenscheid und Wanne an. So war man im Alltag oft unter sich und konnte Kultur und Glauben in der Nachbarschaft praktizieren.
Ernst Kuzorra wuchs nahe der Zeche Consolidation in Schalke auf und nahm im Alter von 15 Jahren eine Anstellung als ungelernter Kohlenschlepper an, um wie sein Vater Bergmann zu werden. Seine große Leidenschaft und sein Talent war jedoch das Fußballspiel. Bereits mit 17 Jahren absolvierte Kuzorra sein erstes Spiel in der ersten Mannschaft des TuS Schalke 1877, aus dem später der FC Schalke 04 hervorging. Die Spielweise im Verein wurden von den Brüder Hans und Fred Ballmann geprägt, die in England das Kurzpassspiel kennen gelernt und mit ins Ruhrgebiet gebracht hatten. Ernst Kuzorra und sein Mitspieler Fritz Szepan entwickelten daraus mit dem ständigen Freilaufen der Spieler den „Schalker Kreisel“, der zum Erfolgsgeheimnis der Mannschaft werden sollte. 1927 wurde die Mannschaft um Ernst Kuzorra Ruhrbezirksmeister, 1929 Meister des Westdeutschen Spielverbands und 1934 erstmals Deutscher Meister.
Die Anhänger feierten das als Sieg einer Arbeitermannschaft aus dem Ruhrgebiet. Bis dahin waren die Meistertitel vor allem unter den etablierten bürgerlichen Vereinen aus Berlin, Hamburg oder Süddeutschland ausgespielt worden. Nun hatte sich ein Arbeiterverein aus dem Bergbaumilieu durchgesetzt. Tatsächlich stammten viele Spieler aus Bergarbeiterfamilien, wurden jedoch wie Ernst Kuzorra großzügig von der Arbeit freigestellt oder von anderen finanziell unterstützt.
In Polen galt der Sieg der Schalker Mannschaft jedoch als ein Erfolg polnischer Spieler. „Deutsche Meisterschaft in den Händen der Polen“, titelte die polnische Sportzeitung „Przeląd Sportowy“. Sie feierte „den Triumph der Mannschaft unserer Landsleute“ und betonte, dass die Spieler „Söhne polnischer Emigranten“ seien.
So geriet Ernst Kuzorra am ersten Höhepunkt seines Erfolgs in die politischen Auseinandersetzungen zwischen Polen und Deutschland und zum Spielball von Politik und Propaganda. Im 1918 wieder gegründeten polnischen Staat versuchten Journalisten, Schalkes Erfolge für die polnische Sache in Dienst zu nehmen, während im vom Nationalsozialismus geprägten Deutschland der Geburtsort im Ruhrgebiet und die Nähe zum Arbeitermilieu in den Vordergrund gestellt wurden. So listete die Schalker Vereinsführung in einer Gegendarstellung die Geburtsorte der Schalker Spieler und ihrer Eltern auf und betonte, dass alle Spieler „im westfälischen Industriebezirk geboren“ und „keine polnischen Emigranten“ seien. Die Zuwanderungsgeschichte der Spielerfamilien wurde vollständig ausgeblendet. In den Vordergrund der Propaganda trat nun die Herkunft aus dem Bergarbeitermilieu.
Ungeachtet der tatsächlichen Diskriminierungen wurde das Arbeitermilieu im Ruhrgebiet als Schmelztiegel verklärt, der – ganz im Sinne des nationalsozialistischen Weltbilds – alle Kräfte einem Führer und einem Ziel unterordnete. Bis 1942 errang Ernst Kuzorra mit seinem Verein noch fünfmal die Deutsche Fußballmeisterschaft und einmal den Pokalsieg. Die einzigartige Siegesserie wurde weiter politisch instrumentalisiert: Das Team wurde als vorbildliche deutsche nationalsozialistische Mannschaft propagiert und die Spieler spielten mit.
Ernst Kuzorra thematisierte bis ins hohe Alter hinein die Herkunft seiner Eltern kaum. Er blieb seinem Stadtteil Schalke stets verbunden und hielt auch dem Verein bis zum Ende seiner Karriere als Spieler die Treue.
Bis heute sehen sich Fußballspieler mit Migrationshintergrund Fragen nach Herkunft und Identität ausgesetzt. Vor allem bei Nationalspielern werden nicht nur sportliche Leistung, sondern immer wieder auch die der Zugehörigkeit und politischen Orientierung diskutiert. So auch im Fall von Mesut Özil, einem weiteren erstklassigen Fußballprofi, der in Gelsenkirchen als Sohn von Zuwanderern geboren wurde und es bis zum deutschen Nationalspieler schaffte. Nach einer Kontroverse über ein gemeinsames Foto mit dem türkischen Staatspräsidenten trat Özil 2018 aus der deutschen Nationalmannschaft zurück.
Dietmar Osses
Leiter Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur Zeche Hannover
Literaturhinweise
Dietmar Osses (Hg.): Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet. Essen: Klartext-Verlag 2015
Thomas Urban: Schwarze Adler, weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik. Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2012
Diethelm Blecking / Gerd Dembowski (Hg.): Der Ball ist bunt. Fußball, Migration und Vielfalt der Identitäten in Deutschland. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2010
Das Projekt “Wie wollen wir leben in…?” wird
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